The perfect imperfection – die Wabi Sabi Ästhetik

wabi sabi schale

Vor einiger Zeit haben wir Urlaub in Italien in der Toscana verbracht. Wir wohnten auf einem Agriturismo mitten auf dem Land, konnten bei der Bäuerin nebenan Olivenöl, Wein, Eier und Safran für ein paar Euro kaufen, haben in kleinen Landrestaurants einfach nur köstlich gegessen und uns viel angeschaut. Warum ich das erzähle? Mein Mann amüsiert sich immer, wenn ich in einer Stadt nicht die beeindruckenden Kirchen und hochherrschaftlichen Häuser fotografiere, sondern immer da stehen bleibe, wo die Zeit als großartige Künstlerin gewirkt hat und ihre dekorativen Spuren für mich die wahre Schönheit eines Hauses darstellen.

Die unvollkommene Schönheit

Und immer wieder stelle ich fest, dass ich Dinge besonders schön finde, die nicht perfekt sind. Eine mineralische Farbe mit Naturpigmenten, wie sie früher im Süden immer verwandt wurde, altert so wunderschön und sieht in meinen Augen viel, viel interessanter aus als ein Haus, das mit einer Kunststoffdispersionsfarbe zugestrichene oder mit einer Dämmung eingepackt wurde, wie es bei uns üblich ist. Und so zieht sich der Hang zur Perfektion beim Bauen und Renovieren durch das ganze Haus. Jeder Neubau sieht gleich aus: kubisch, viel Glas, die Küchenfront ist hochglanz weiß, graue Fenster, glatte weiße Wände und ein Eichenparkett – perfekt, langweilig.

Und hier kommt Wabi Sabi ins Spiel. Was sich ein bisschen wie Wasabi anhört aber nichts mit Essen zu tun hat, kommt aus dem Zen Buddhismus. Das Wort an sich ist schwer zu übersetzen, es bedeutet in etwa: „die Schönheit unvollkommener, vergänglicher und unvollständiger Dinge. Es bezeichnet die Schönheit anspruchsloser, schlichter und unkonventioneller Dinge.“ (Leonard Koren)

Historische-Fassade-Palermo
Historische-Fassade-Palermo

„Wabi Sabi stellt den Gegenpol zur digitalisierten, unbegrenzt reproduzierbaren Hochglanz -Ästhetik der heutigen Zeit dar.“ Ich bin scheinbar ein Wabi Sabi Fan, da ich Dinge liebe, denen man ansieht, dass sie schon einiges erlebt haben. Unser großer Esstsich hat jede Mengen Macken – wo Ole mal einen Handbohrer ausprobiert hat, wo ich mal eine heisse Pfanne ohne Untersetzer auf den Tisch gestellt habe, die Glitzerreste in der Maserung von gefühlten 500 Karnevalsschminken und der Riss inmitten der Platte, der irgendwann seinen Weg ins Leben gefunden hat, und sich je nach Temperatur verändert. Ich mag das. Die Dinge mit Geschichten und Eigenleben. Das Gefühl wird mir niemals eine Hochglanzfront vermitteln können.

Wabi Sabi steht genau im Kontrast zu unseren Design Werten: hohe Ansprüche an Funktionalität, Makellosigkeit und Symmetrie entgegen Natürlichkeit, organische Formen, Abnutzungserscheinungen, Schlichtheit.

Es bedeutet die Kunst, Unvollkommenheit als Vollkommenheit zu sehen. The perfect imperfection. Und bei uns gehört dazu, einen entstandenen Riß, den man in einem Designestrich schlecht ausbessern kann, gekonnt zu einem kleinen Kunstwerk zu machen.

ein Riß gülden in Szene gesetzt
ein Riß gülden in Szene gesetzt

Ich arbeite schon seit 30 Jahren mit einem Innenarchitekten und Farbgestalter aus München, Martin Leo Bauer, zusammen. Er hat mir früh beigebracht, dass, wenn etwas mal nicht so wird wie es eigenlich sollte (was im Handwek schon mal passieren kann) eine große Chance darstellt, etwas Neues, Nicht-Geplantes, Individuelles entstehen zu lassen, was oft viel besser wird als die ursprünglich Idee. Eben nicht perfekt nach Plan, aber spannend, kreativ und individuell. Bei einem Handwerk dürfen Spuren und die Handschrift sichtbar sein. Natürliche Materialien wie Stein- oder Kalkputz sowie unsere Mineralfarben, all das sind meine nachhaltigen Wabi Sabi Materialien, mit denen Räume eine positive Ausstrahlung als echter, sicherer, natürlicher Lebensraum bekommen und auch nach vielen Jahren noch dankbare Oberflächen sind, die besonders schön altern und eben nicht einfach nur schäbig aussehen, sondern charmant.

Vielleicht sollten wir uns alle überlegen, ob es sich lohnt, sich über einen Kratzer im Parkett aufzuregen oder demnächst in weiser Zen Manie entspannt zu lächeln und zu denken:“ Wie war das nochmal mit dem Wasabi?“

Hier auf Pinterest noch eine kleine Galerie mit Wabi Sabi Design. Schöne Fotos mit beruhigender Wirkung.

Beste Grüße,

eure Ursula Kohlmann

Buchemfehlungen:

Wabi Sabi für Künstler, Architekten und Designer von Leonard Koren, Wasmuth Verlag

the maker, Beond decoratiing: Crafting a unique space von Tamara Maynes von Murdoch books (wunderschönes Buch über die Designerin mit tollen Fotos)

Simple Chic, Einrichten und Dekorieren mit natürlichen Materialien von Hans Blomquist, Christian Verlag

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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7 Antworten

  1. Hi Ursel,
    Ich habe deinen Text auf farbenfreudeleben.de begeistert gelesen… Wie schön du es beschrieben hast, die Unvollkommenheit, das Alternde, Abgelebte( positiv) in ihrer Schönheit! So wie wir…
    Da empfehle ich auch unbedingt Sizilien, Palermo! Eine tolle Stadt, die in der Hinsicht viele Fotomotive und Ideen , Inspirationen bietet. Hinzu kommt, im Hinterkopf immer die latente Anwesenheit der Cosa Nostra, die in der Stadt irgendwie mitschwingt
    Liebe Grüße
    Sonja

    1. Liebe Sonja,
      danke für deine Wabi Sabi Empfehlung, muss ich mal hin.
      Und wir? Altern auch in Schönheit :-)
      Herzliche Grüße,
      Ursel

  2. Liebe Frau Kohlmann!
    Was für eine Bereicherung Ihr Blog doch immer wieder ist! Dieser Artikel spricht mir mal wieder sowas von aus der Seele!
    Mein Mann ( der Malermeister) schüttelt auch immer den Kopf, wenn ich von Dingen ( Türen, Schränke, Fassaden etc.) begeistert bin, die ( für ihn) schäbig aussehen und dringend restaurierungsbedürftig wären! Aktuell wunderschöne Türen in unserem Urlaub in Island. Da bin ich dann scheinbar eher der WabiSabi-Typ!
    Vielen dank für diesen Bericht und Ihre Inspirationen!
    Liebe Grüße
    Petra Koch-Röthlein

    1. Vielen Dank für Ihren netten Kommentar, Frau Koch-Röthlein!
      Ich freue mich immer, wenn jemand meinen Blog gerne liest.
      Machen wir weiter Fotos als WabiSabi Typen :-)
      Herzliche Grüße,
      Ursula Kohlmann

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